Glücksgefühle und Südharzromantik – mein erster Wandermarathon
“5, 4, 3, 2, 1… und los!” – beim Countdown kann ich es immer noch nicht glauben, dass ich jetzt – in diesem Moment – zu meinem ersten Wandermarathon aufbreche. Mehr als ein halbes Jahr habe ich auf den einen Moment gewartet, ordentlich geschwitzt, um ins Training zu kommen und zeitweise extrem gehibbelt, weil ich mich so gefreut habe. Ich fing mit dem Joggen an, blieb aber dabei in meiner Komfortzone bis 10 km (soll ja Spaß machen und Kondition kriegt man so auch), machte lange Wanderungen, machte kurze Wanderungen, legte Bergsprints ein, quälte mich durchs Intervalltraining und nahm an Nordic Walking Events und Laufveranstaltungen teil. Alles nach dem Motto: Runter vom Sofa, schwing die Beine, Couchpotatoe!
Und dann ist er da – der Tag X, der über meine körperliche und geistige Fitness entscheiden sollte. Der Kirchenkreis Südharz der Evangelischen Kirche in Mitteldeutschland begrüßt zu völlig unchristlicher Zeit am frühen Sonntagmorgen die knapp 100 Teilnehmer, die in wenigen Minuten auf die 42,2 km lange Strecke aufbrechen würden. Treff- und Startpunkt ist der beschauliche Ort Großwechsungen im Landkreis Nordhausen in Thüringen. Das Herrchen, Barney und ich sind bereits am Freitagabend angereist, haben uns in der Nähe eine Ferienwohnung genommen, um der langen Anreise aus Goslar zu entgehen. Außerdem sind wir gerne übers Wochenende weg. Der Großteil meiner Mitwanderer nimmt einen kostenlosen Busshuttle vom Zielort Neustadt/Harz in Anspruch. Der Wandermarathon sollte eine abwechslungsreiche Streckenwanderung sein – find’ ich gut. Noch besser find’ ich, dass ich meinen persönlichen Shuttle hatte (Hund und Herrchen haben im Hintergrund wichtige Arbeit geleistet, während ich geschwitzt habe!).
Jeder Weg beginnt mit dem ersten Schritt
“Ach du meine Güte sehen die alle sportlich und trainiert aus – oh shit, guck’ dir das an!”, raune ich dem Herrchen zu, als die Marathon-Teilnehmer nach und nach aus dem Bus steigen. Ich sehe an mir runter: dunkelblaues Merino-T-Shirt, beige-grüne Zip-Off-Wanderhose, meine geliebten Wrightsock-Wandersocken und ausgelatschte Gassi-Trekkingschuhe. Stützstrümpfe? Bandagen? Trinksystem? Öhm, steht zwar auf meiner Bestellliste ganz weit oben, hab ich aber vollkommen vergessen, rechtzeitig zu bestellen. Zumindest das Trinksystem. Okay, und vielleicht ein paar knallgrüne Stützstrümpfe. “Ach komm, du schaffst das locker”, ermutigt das Herrchen mich, während ich mir noch schnell meine Hosenbeine abzippe. Mit kurzer Hose wirkt man ja auch schon sportlicher. Barney schläft noch halb in seiner Hundebox hinten im Auto, ich drücke ihm noch schnell einen Kuss auf die Nase, schultere meinen fast nagelneuen Trekking-Rucksack, den ich vorher natürlich auch nicht auf längerer Strecke getestet habe, und marschiere zum Festzelt, in dem die Begrüßung und letzte organisatorische Dinge stattfinden sollen. Meine Startunterlagen hatte ich zum Glück schon am Abend zuvor am Zielort Neustadt/Harz abgeholt. Somit treffe ich im Zelt auf meine beiden Wanderbekannten, die ich mit meinem Blogbeitrag im Januar überzeugen konnte mitzumachen. Britta und Thorsten kommen beide aus Hannover und während ich mit Thorsten schon seit Jahren in Kontakt bin, treffe ich Britta an diesem Morgen das erste Mal. Sie ist eine große und sehr taffe Frau, pilgert regelmäßig auf verschiedenen Abschnitten des Jakobsweges und war mir auf Anhieb sympathisch.
Eine Fitness-Tanzgruppe führt im Festzelt noch fix ein paar Aufwärmübungen vor, bei denen wir uns aber ausklinken. Wir können den Start gar nicht erwarten. Noch schnell ein Erinnerungsfoto von der “frischen” Truppe vor dem Start und nur zwei Minuten nach 7 Uhr wird der Countdown runtergezählt – fast pünktlich! Im Pulk marschieren wir schräg über den Festplatz über die (abgesicherte!) Straße in Richtung Feld. Das Herrchen drückt mir noch schnell einen Schmatzer ins Gesicht (hast du schon mal probiert im Gehen zu küssen?!) und weg waren wir. Die halbe Strecke würde uns ein orangefarbener Pfeil den Weg weisen, nach der Hälfte treffen wir auf die Halbmarathonis und die Wegmarkierung würde dann orange-blau werden. Die ersten Schritte beginnen direkt mit einer leichten Steigung. “Boah, ich hab ja schon keine Lust mehr!”, scherze ich. Ein paar Trailrunner ziehen schon im strammen Laufschritt an uns vorbei. “Darauf hätte ich ja noch weniger Lust…” Was uns am meisten erstaunt und auch unglaublich beeindruckt, ist eine ältere Dame mit weißem Haar, vielleicht Mitte 70, möglicherweise auch etwas jünger, die uns ebenfalls überholt und schnell außer Sichtweite kommt. Respekt, wer in dem Alter noch so fit ist, um den Wandermarathon im Walking-Schritt zu absolvieren. Wir fanden unser Ziel – eine Durchschnittsgeschwindigkeit zwischen 5 und 6 km/h – schon ehrgeizig. Aber (Nordic) Walking ist noch mal eine ganz andere Hausnummer. (Wir haben die Frau auch erst im Ziel wieder gesehen)
Die leichte Steigung vom Anfang behält der erste Streckenteil zum Fronderöder Hölzchen bei. Wir marschieren fast im Gleichschritt den asphaltierten Feldweg entlang und freuen uns über die ersten Ausblicke, wenn wir nach links oder rechts gucken. Der Weg zieht sich zwar fast endlos in die Länge, jedoch bieten Mohn- und Kornblumen am Feldesrand und in den Bergwiesen eine willkommene Abwechslung. Ist dir auch schon aufgefallen, dass der Klatschmohn in diesem Jahr besonders intensiv geblüht hat? Einfach wunderschön! Für mich sind die filigranen roten Blütenblätter ein Zeichen des Sommers und eine tolle Kindheitserinnerung. Wir passieren den ersten Kilometer und freuen uns riesig über das große Schild am Busch links mit der großen Kilometerangabe. Genauso geht es weiter – bei jedem Kilometer! Ungefähr bei Kilometer 2 oder 3, wartet eine kleine Gruppe des Organisationsteams auf Klappstühlen auf uns und weist uns den richtigen Weg. Ab hier geht es nämlich direkt am Waldrand weiter – durch knöchelhohes Gras – links von uns ein leuchtend gelbes Getreidefeld und rechts von uns der satte grüne Wald. Es ist wunderschön, sodass viele ihre Handys oder Kameras zücken und die ersten Bilder machen. Während des Laufens kommen wir mit einem anderen Wanderer ins Gespräch. Normalerweise laufe er solche Distanzen, wollte sich aber an diesem Tag mal im Wandern probieren. Ich bin sicher, dass er es nicht bereuen wird. Ich laufe auch gerne, komme aber erst so richtig zum Genießen und zur Ruhe, wenn meine Durchschnittsgeschwindigkeit unter 7 km/h liegt. Es ist ziemlich drückend und irgendwie schwül. Die Sonne scheint zwar, zeigt sich im nächsten Augenblick aber wieder verhalten und verschwindet hinter einer Wolkenschicht. “Hauptsache, es bleibt trocken”, denke ich. Doch dieser Wunsch wurde nicht erhört…
Der schöne Waldweg gabelt sich und wir werden nach links in Richtung des kleinen Ortes Kehmstedt navigiert. Zum ersten Mal geht es bergab. Der Weg ist recht holprig, Schotterstücke erschweren das Vorankommen. Die Steine drücken durch meine Sohle – ideale Trailschuhe habe ich nicht an. Britta und Thorsten haben es da schon besser mit ihren robusten Wanderstiefeln, denke ich und laufe einfach weiter. Kehmstedt ist ein total niedliches und noch völlig verschlafenes kleines Dörfchen. Quasi im Vorbeigehen passieren wir die erste Stempelstelle der Wanderung. Helfer der örtlichen Kirchengemeinde warten – natürlich vor der Kirche – mit einem Lächeln auf uns und drücken uns den ersten Stempel ins Heftchen. (Das Heftmaterial ist leider für Stempelfarbe nur bedingt geeignet gewesen. Einfach zuklappen und wieder im Rucksack verstauen hatte zur Folge, dass die ganze Farbe verwischt ist – sehr schade! Wir haben es leider erst später herausgefunden) Wir befinden uns aktuell bei Kilometer 6,5 und beschließen, ohne Pause weiterzugehen. “Ich bin gerade total im Flow”, sagt Britta und wir stimmen ihr zu. Durch den etwa 400-Seelen-Ort geht es wieder hinauf in Richtung Feld. Der nächste Hügel wartet auf uns. Auf der linken Straßenseite fällt uns plötzlich ein großes Schild vor einer geöffneten Tür auf, auf dem steht: “Toilette hier!”. So eine liebe Geste von einem Anwohner. Wir sind richtig gerührt und dankbar, auch wenn unsere Blasen noch gut durchhalten. Soviel Hilfsbereitschaft in der heutigen Zeit erstaunt und erfreut uns alle. Schweigend stapfen wir den Hügel zwischen Feldern, quasi Hangfeldern, hinauf. Ich fühle mich wahrhaftig wie eine Pilgerin. War das nicht auch das Ziel des Wandermarathons? Ich war erst skeptisch, ob ich beim Wandern in der Gruppe abschalten kann. Jetzt weiß ich: Es geht wunderbar. Man muss nur die richtigen Wanderpartner an seiner Seite haben, mit denen schweigen nicht unangenehm wird.
Nach der Stempelstelle löst sich die Ansammlung der Wanderer so langsam auf. Einige verweilen noch etwas an der Kirche, viele ziehen – wie wir – einfach durch und gehen weiter. Fast bis zum Horizont erstreckt sich ein schöner Feldweg vor uns. Mit Grünstreifen in der Mitte lässt es sich hier wunderbar laufen – auch zu dritt nebeneinander. Wir freuen uns über die sommerlichen Felder, die blühenden Gräser und Wiesenblumen und atmen tief durch. In der Ferne sehen wir dunkle Wolken und Dunst zwischen der tief hängenden Wolkendecke und dem Horizont – ein deutliches Zeichen für Regen. “Och, da müssen wir hin!”, sagt Thorsten ganz trocken. In der Tat hat er recht. Irgendwo ganz weit da hinten liegt Neustadt/Harz, unser noch sehr weit entferntes Tagesziel. Am Waldrand biegen wir nach rechts ab. Ich bin mittlerweile in einem perfekt funktionierenden Schritttempo angekommen. Etwa 6 km/h laufen wir im Durchschnitt, mal mehr, mal weniger. Der Weg am Waldrand ist schön. Jeder Weg hier ist schön.
Nach dem entspannten Waldweg – ohne Steigung! – folgen wir einem Stück der Straße zwischen Fronderode und Immenrode. Die Feuerwehr hat den Abschnitt wieder extra für uns Marathonis gesperrt und leitet uns sicher auf das nächste Stückchen Feldweg. Die Landschaft hier ist hügelig. Das merken wir während dem spannenden Wechselspiel zwischen Steigungen und Gefälle. Es macht Spaß und ist abwechslungsreich. Über eine solche Berg- und Talfahrt erreichen wir das Dorf Immenrode, halb so klein wie Kehmstedt. Wir haben inzwischen den zweistelligen Kilometerbereich geknackt und bald ein Drittel geschafft. Bei Kilometer 12 wartet die Freiwillige Feuerwehr Immenrode an der ersten Verpflegungsstelle auf uns. Wir nutzen die Zeit für eine erste Pause, setzen den Rucksack ab und strecken die Beine aus. Noch ist alles gut, keine Verspannungen, keine Schmerzen. Wir trinken dieses hippe isotonische Sportlergetränk. Es ist gekühlt und unglaublich lecker. Da wir bei der schwülen Luft schon geschwitzt haben, ist viel trinken ein absolutes Muss. Ich halte in der freien Hand immer noch mein Volvic Mineralwasser, was ich mir als Notfallgetränk eingepackt hatte. Bis zu dieser Verpflegungsstelle hatte ich großen Durst. Außerdem tut es mir immer gut, bei längeren Distanzen etwas in der Hand zu haben, weil meine Hände schnell dick werden und anschwellen. Zum Essen gibt es Laugenstangen und Schokobrötchen. Ehrlich gesagt die besten Schokobrötchen, die ich je gegessen habe. So lecker! Die Feuerwehrmänner und -frauen haben sogar extra für uns eine Bank nach draußen in die Sonne gestellt (die hat sich pünktlich zur Pause nämlich auch mal wieder blicken lassen).
Wir wandern weiter, über die Hauptstraße, am Friedhof vorbei wieder in Richtung Felder. Vor uns, hinter uns und neben uns erstrecken sich die Ausläufer des Südharzes. So bewusst und intensiv habe ich die Wanderregion noch nie wahrgenommen. Im Oberharz habe ich immer gesagt: “Du wanderst 5 km und während dieser Strecke ändert sich die Landschaft mindestens 5 Mal.” Dass es hier genauso sein würde, hätte ich nicht für möglich gehalten. Britta und Thorsten geht es genauso. Wir folgen wieder einer kleinen Landstraße und laufen anschließend am alten Bahndamm der früheren Helmetalbahn entlang. Laut Tourenbeschreibung rankt sich eine traurige Geschichte um diese Bahn, die nie gefahren ist. Der Damm wurde in der Zeit des Zweiten Weltkriegs von Inhaftierten des Konzentrationslagers Mittelbau-Dora, das wir später auch passieren würden, und dessen Außenlagern angelegt. Es war geplant, dass dort militärische Transporte durchgeführt werden sollten. Die Arbeits- und Lebensbedingungen seien katastrophal gewesen, sodass viele Arbeiter den Tod fanden. Ein dunkles, pechschwarzes Kapitel in unserer deutschen Geschichte. Vom Bahndamm ist so gut wie gar nichts mehr zu sehen. Aufgefallen ist uns auch nichts. Erstaunlich, wie die Natur sich alles wieder zurückholt. Irgendwie beruhigend der Gedanke, oder?
Wir überqueren den kleinen Fluss, die Helme, und kommen ins Dorf Günzerode, das wir ebenfalls passieren und nach dem uns wieder ein ordentlicher Anstieg erwartet. Zu diesem Zeitpunkt hat sich meine Hoffnung auf eine regenfreie Wanderung leider zerschlagen, denn es fängt an zu regnen. Britta überlegt, ob sie ihren Regenschirm rauskramt, doch ich deute auf den weiteren Wegverlauf, einen steilen Anstieg, der von hohen Bäumen und Büschen eingerahmt wird – fast wie ein Laubengang. Wir haben Glück, denn hier ist es trocken. Zumindest von oben, denn der Anstieg treibt uns den Schweiß ins Gesicht. Das Handy lasse ich sicher verstaut in der Tasche meiner Wanderhose. Ich halte mich mit den Händen am Bauchgurt meines Rucksacks fest und konzentriere mich auf jeden Schritt. Wir stapfen den Hügel hinauf, jeder in seinem eigenen Tempo. Wir laufen links am Günzeroder Hagen vorbei, um danach in ein noch viel kleineres Dorf mit dem süßen Namen Steinsee zu gelangen. Kurz bevor wir im Dorf ankommen – schnaufend und prustend vom Anstieg – begrüßt uns auf der Kuppe vor dem Ortseingang ein als Luther höchstpersönlich verkleideter älterer Herr. “Na, liebe Wanderer, könnt ihr noch?” “Ach klar”, sagen wir. “Hier an dieser Stelle ist Luther in das Gewitter gekommen.” “Aaah!”, sagen wir aus einem Munde. Wir haben keine Ahnung. Er wünscht uns eine tolle weitere Wanderung, doch wir hören ihm schon fast nicht mehr zu, denn unsere Aufmerksamkeit wird auf eine etwa 3 Meter hohe kleine Kapelle gelenkt, die aus Strohballen gebastelt wurde. Zeitgleich zücken wir unsere Handys. Dieses Kunstwerk muss einfach fotografiert werden.
Im Dorf hat die Feuerwehr wieder Straßen für uns gesperrt. Der orangefarbene Pfeil leitet uns quer durch den Ort über die kleine Hauptstraße auf der anderen Seite den Berg wieder hoch. Wir steigen auf zum Kummerberg, der seinem Namen auch alle Ehre macht. Dieser Anstieg hat es in sich. Wir schnaufen und stützen uns auf die Knie, um uns den nötigen Schwung zum Hochgehen zu verschaffen. Ich habe das Gefühl, als würde diese Steigung nie enden. Innerhalb kürzester Zeit legen wir ein ordentliches Maß an Höhenmetern zurück. Steinsee liegt schon bald ganz klein unter uns. “Irgendwo müsste doch jetzt mal schon längst die nächste Verpflegungsstation sein”, sagt Thorsten. Kurz darauf sehen wir tatsächlich eine bunt geschmückte Wanderhütte, Tische und Bänke und freundliche Helfer, die uns sofort was zu trinken in die Hand drücken. Hier erwartet uns zudem der 2. Stempel – also stempeln wir vor dem Essen, damit wir das nicht vergessen. Da ich merke, dass mein linkes Bein schwer wird, schnappe ich mir eine Banane, eine Flasche Iso-Getränk und esse, obwohl ich keinen Hunger habe. Wir haben die Hälfte geschafft, das Kilometerschild und meine Wander-App zeigen 21 km an. Wir nutzen die Pause – jeder auf seine Art. Britta kommt mit einem Wander-Paar ins Gespräch, Thorsten isst gemütlich eine Banane und ich mampfe nebenbei und fülle meine Social Media Kanäle (Blogger halt). Auch das Herrchen und meine Eltern kriegen Bild und Lebenszeichen von mir. Sie sind mächtig stolz auf mich. Ich auch muss ich gestehen. Vor allem habe ich Respekt vor dem, was noch vor uns liegt. “Ab Kilometer 35 wird’s weh tun”, hab ich kurz nach dem Start prophezeit. Sollte ich also wirklich recht behalten?
Beim Aufstehen merken wir, dass unsere Beine schon ein wenig länger brauchen, um wieder in den richtigen Tritt zu kommen. Ich schüttele jedes Bein einmal aus und versuche wieder ins normale Wandertempo zu kommen. Das Positive an dem starken Anstieg ist, dass der nächste Abstieg auf jeden Fall folgt. Also wandern wir gemütlich wieder bergab, laufen ein Stück an einer Straße lang und treffen wieder auf freiwillige Helfer, die uns den Weg weisen. Es geht nach links einen traumhaften Wiesenweg hinauf. “Das da ist der Zalando-Pfad”, sagt ein Helfer völlig überzeugt. “Aaaahhhh cool!”, rufen Britta und ich. “Siehste, funktioniert doch bei allen Frauen”, grinst der Helfer. Wir lachen und die Truppe wünscht uns weiterhin viel Spaß. Es ist wahnsinnig toll wie freundlich alle sind. Bald zweigt der Weg nach rechts auf den bekannteren Gipskarstweg ab, der uns fast bis ans Ziel begleiten wird. “Doppelte Wegweiser, wie praktisch!”, denke ich. Mit wunderbaren Aussichten auf endlose Felder, Wiesen, Weiden, Seen und Dörfer werden wir belohnt. Ich würde sagen, dass es schon fast einem Panoramaweg gleicht, wenn auch überhaupt nicht überlaufen wie so mancher Premium-Panoramaweg. Wir erfreuen uns an den wechselnden Landschaftsbildern vor unseren Augen und laufen alle im Gänsemarsch hintereinander her. Der Weg ist kaum breiter als der normale Fußabstand – ein Trail ganz nach meinem Geschmack. Wir kommen an den Orten Mauderode, Gudersleben und Woffleben vorbei, schweigen und genießen unsere eigenen Gedanken.
Während der Himmel langsam dunkler wird, erreichen wir fast hochalpines Gelände. Wir wandern in einer Schleife steil bergauf durch das Naturschutzgebiet Sattelköpfe hinauf auf die Hörninger Sattelköpfe (Stempelstelle 99 der Harzer Wandernadel). Dieser Weg ist anspruchsvoll, anstrengend, aber richtig klasse. Kein Luftzug geht, alle Vögel sind verstummt. Merkwürdige Stille senkt sich über den Talkessel. Kaum sind wir am höchsten Punkt und wollen den schmalen Grad in Richtung Aussichtspunkt wandern, fängt es wieder an zu regnen. Britta zieht die Schutzhülle über ihren Rucksack und bewaffnet sich mit ihrem Regenschirm, Thorsten greift nach der Regenjacke und ich entknülle meinen knallroten Regenponcho. “Total ärgerlich, weil es hier echt toll ist”, brumme ich. Das Herrchen und ich waren hier nämlich schon mal im letzten Sommer und so kommen mir die Wege einigermaßen bekannt vor. Auf der Hügelkuppe fährt uns der Wind so richtig unter die nassen Klamotten. Ich mache schnell ein Foto und dann nichts wie ab zum nächsten Waldrand. Unterwegs überholen wir einen Wanderer, der anscheinend leider nicht soviel Glück mit seinen Füßen hat wie wir. Wir fragen ihn ob alles in Ordnung sei, er bejaht, lässt uns überholen und wir ziehen weiter. Die Informationstafeln über die spannende Kipskarstlandschaft lassen wir bei diesem Sprühregen links liegen. Wir machen uns schnell auf den Weg nach Hörningen, in den nächsten Ort, denn dort gibt es die nächste Verpflegungsstation.
Bei Kilometer 29 erreichen wir schließlich die nächste Verpflegungsstelle. Wir treffen am Festplatz an der Eiche auf eine lustige Truppe und andere Mitwanderer. Ein buntes Treiben erwartet uns. Es wird gegrillt, Stockbrot gemacht, Musik gespielt und an Tischen zusammengesessen und gelacht. Es scheint so, als wären einige Dorfbewohner und Freunde gekommen, um sich das Treiben anzusehen. Für uns ist völlig neu, dass ab diesem Punkt unsere orangefarbene Marathonstrecke mit der blauen Halbmarathonstrecke zusammengelegt werden. Die Halbmarathonis sind allerdings schon über alle Berge, weil sie schon am Vormittag gestartet sind. Wir haben gerade Mittag, strecken Arme und Beine aus und lassen das bunte Treiben auf uns wirken. Allzu lange wollen wir es uns aber nicht bequem machen, denn wir haben noch ein Stückchen vor uns. Wir brechen auf und schlagartig bessert sich das Wetter. Meinen Regenponcho habe ich vorsichtshalber griffbereit, aber nun kommt sogar die Sonne raus. Wir laufen weiter über Höhen und an Wäldern und Feldern vorbei. “Ich bin ja echt froh, dass wir heute nicht 36 Grad haben wie in der letzten Woche”, wirft Thorsten ein. Wir stimmen ihm zu. In der Tat waren die letzten Tage bis zum Gewitter am Donnerstag überdurchschnittlich heiß. Abkühlung Fehlanzeige. Wir sind froh, dass wir bei etwa 20 Grad wandern, im T-Shirt und in kurzer Hose. Warm wird man beim Wandern doch eh.
Wir durchqueren das Gelände der Gedenkstätte Mittelbau-Dora, kommen am Informationszentrum vorbei und laufen über das geschichtsträchtige Gelände. Die Häftlinge des Konzentrationslagers wurden untertage beim Bau der “Vergeltungswaffe 2” (V2) sowie der Flugbombe “Vergeltungswaffe 1” (V1) eingesetzt. 60.000 Häftlinge sollen in den 18 Monaten, die das KZ existierte, vor Ort gewesen sein, 20.000 starben wegen der unhumanen Arbeits- und Lebensbedingungen. Noch heute ist es ein Ort zum Innehalten und zum Nachdenken, auch wenn wir dieses Elend und Leid gar nicht mehr greifen können. Mitarbeiter der Gedenkstätte bieten allen Wandermarathon-Teilnehmern eine kostenlose Stollen-Führung an, aber wir lehnen dankend ab. Weitere 60 Minuten stehen und gehen würde uns wahrscheinlich den Rest geben. So langsam wollen wir eigentlich gerne ankommen. Vom Gelände der Gedenkstätte erhaschen wir einen flüchtigen Blick auf die Großstadt Nordhausen. Unser Ziel Neustadt/Harz ist also nicht mehr weit. Nach der letzten Verpflegungsstelle werden die Kilometer runtergezählt, was wir sehr charmant finden. Auf dem Gelände der Gedenkstätte begrüßen wir voller Freude das Plakat mit der Aufschrift “Noch 10 km”.
Wir folgen weiter dem Karstwanderweg und gelangen schließlich in urbaneres Gebiet. Die Ausläufer von Nordhausen und Niedersachswerfen kommen in Sicht, wir wandern unter einer Brücke hindurch und an Pferdekoppeln vorbei. Wir begrüßen den munteren Vierbeiner, der kurz darauf in Richtung Stall und Hof trabt. “Es fängt bestimmt gleich wieder an zu regnen. Der merkt das!”, sage ich und denke an mein schreckliches Gewitter-Erlebnis, als ich mein Pferd von einer scheinbar endlos weiten Hangweide holen wollte. Alle Pferde standen dicht im Herdenverband am Waldrand am äußersten und hintersten Teil der Weide. Mir ist erst aufgefallen, dass sie dort Schutz gesucht haben, als ein heftiges Gewitter über uns zog. Ich war nass bis auf die Haut und total verängstigt… Aber egal, Gewitterluft haben wir heute nicht, denke ich erleichtert. “Das bisschen Regen…”. Wir kommen in den Ort Krimderode und steuern gerade die letzte Verpflegungs- und Stempelstation, eine evangelische Grundschule, an, als der Himmel seine Schleusen öffnet und ein richtiger Platzregen hinunterkommt. Hilft nichts, wir stempeln, essen und trinken was und setzen uns hin, um den Regen abzuwarten. Eine Helferin setzt sogar extra für uns eine Kanne Kaffee auf. Britta guckt auf ihre Wetter-App, checkt das Regenradar und gibt Entwarnung: “Nur noch ca. 10 Minuten und dann ist die Regenfront durch.” Wir sind erleichtert, denn so eine lange Zwangspause hatten wir nicht eingeplant. Eigentlich wollten wir nur kurz stempeln, uns eine Flasche Wasser schnappen und weitergehen. Wir sind nur noch 8 km vom Ziel entfernt. Von hier aus startet auch eine Familienwanderung, die ebenfalls in Neustadt/Harz endet.
Als der Regen fast aufgehört hat und es draußen wieder heller wird, schultern wir unsere Rucksäcke und ziehen wieder los. Wir versuchen erneut unseren inneren Motor zu finden, doch der lässt sich immer schwerer anzünden. Uns stecken schließlich schon 34 Kilometer in den Beinen. Wir wandern weiter durch den Ort und gelangen an eine Ampelkreuzung, an der wir anhalten und auf das grüne Signal warten müssen. Autos, Motorräder und LKWs rauschen auf der B4 an uns vorbei. Mir ist das alles viel zu laut. Hier gefällt es mir nicht. Weißt du, wenn du schon über 30 Kilometer nur durch die Natur und hin und wieder durch kleine Dörfer gewandert bist, kommen dir die normalen Alltagsgeräusche unglaublich laut vor. Ein paar Familien starten auch gerade. Wir müssen uns also auf etwas vollere Wege einstellen. Da die Familienwanderung zeitlich nicht begrenzt ist, kann jeder starten, wann er will. Wir überqueren die Straße und biegen in eine alte Gasse ab, die uns schon fast etwas südländisch anmutend, in den alten Ortsteil Krimderodes führt – immer mit tollem Ausblick auf Nordhausen und die Südharzlandschaft. Der Himmel klart auf, während wir über regennasse Wiesenwege stapfen und die frische Luft genießen. Wir befinden uns nun in der Rüdigsdorfer Schweiz, eine Hügellandschaft, die zu den kleinsten Schweizen in Deutschland gehört und aufgrund des letzten intakten Gipskarstgebietes von der EU zum Naturerbe erklärt wurde. Wir wandern über sanfte Hügelketten und erblicken plötzlich in der Ferne unser sehnsüchtig erwartetes Ziel.
“Nur noch 3 km”, ruft Thorsten, als er einen weiteren Wegweiser am Waldrand entdeckt. Wir zählen jetzt wirklich mit. “Ich würde jetzt schon ganz gerne ankommen”, meint Britta. Ich stimme ihr zu, merke allerdings, dass ich noch ordentlich Reserven habe und irgendwie ein bisschen traurig – oder vielmehr wehmütig – bin, dass die Wanderung schon in Kürze vorbei sein wird. Wir erreichen einen Wald, den wohl letzten Waldabschnitt vor unserem Ziel. Kontinuierlich bergab wandern wir in Richtung Neustadt/Harz. Dieser Abschnitt wird zur Rutschpartie, denn durch den Regen stehen die gesamten Wege unter Wasser. Wir weichen tiefen Pfützen aus, müssen manchmal mittendurch und rutschen seitlich fast weg. Meine Beine sind schon jetzt matschbespränkelt, meine Schuhe nass und schlammig. Wir laufen den Abschnitt gemeinsam mit einer Frau, die mit ihrem Husky von der Nordsee angereist ist, um am Wandermarathon teilzunehmen. Wir plaudern zwischen den Pfützen ein wenig über den Zughundesport. Einen letzten Hügel müssen wir noch hinauf. Wir überholen Eltern mit Kinderwagen, spielende Kids und dazugehörige Großeltern. Und dann geht alles irgendwie ganz schnell. Wir erreichen Neustadt/Harz, laufen durch das alte Stadttor in Richtung Zentrum zum Sportplatz, dem Ziel des Wandermarathons. Herrchen wartet schon auf den letzten Metern und beglückwünscht uns. Ich bin überglücklich und strahle über beide Backen. Im Festzelt holen wir uns Urkunden und Finisher-T-Shirts ab und werden mit Applaus begrüßt. Das ist mir zwar etwas unangenehm, aber der Moderator hat recht: Wir können wirklich stolz auf uns sein. Herrchen und ich verabschieden uns von Britta und Thorsten, weil Barney im Auto wartet. Wir drücken uns herzlich und schwören uns, dass wir den nächsten Wandermarathon wieder gemeinsam als Trio laufen werden.
Die Tour im Überblick:
Strecke: 42,7 km
Rundweg: nein
Dauer: 8 Stunden, 4 Minuten
Schwierigkeit: schwer, anspruchsvoll, gute Kondition erforderlich
Höhenmeter: 930 m rauf und 857 m runter
Harzer Wandernadel: Hörninger Sattelköpfe (99)
Nachtrag: Ich wurde weder zum Wandermarathon eingeladen, noch von irgendwem gesponsert. Ich schreibe über das Event, weil es mir wunderbar gefallen hat. Die Organisation war vorbildlich – bei keinem anderen Lauf- oder Wanderevent habe ich vergleichbares erlebt – und die freiwilligen Helfer waren richtig freundlich, zuvorkommend und aufmerksam. Tausend Dank an meine lieben Wanderbegleiter Britta und Thorsten (ohne euch wäre es ziemlich langweilig geworden), an das weltbeste Herrchen, den weltbesten Hund und die weltbeste Familie für die Unterstützung und das Mitfiebern. Weitere Events sind in Planung, denn ich habe Blut geleckt, zum Beispiel das große Harz-Dogtrekking Anfang Oktober (meine erste Veranstaltung mit Barney) – sei gespannt und keep on hiking!
Wenn du auf den Geschmack gekommen bist, solltest du unbedingt mal bei der lieben Conny von “DieStreunerin.at” vorbeischauen: Andere Region, aber mindestens genauso schön wie der Harz. Lass’ dich überraschen.
Hallo Maddie,
dein erster Wandermarathon hat Spaß gemacht zu lesen, mit Witz und Charme. 🙂
Ich hatte dieses Jahr auch meine erste 12h-Wanderung in Berchtesgadener Land, (Orga von 24HTrophy). Wollte einfach mal erleben, wie es organisiert ist, wie es mit den Mitwanderer sein wird und wie die Strecke an sich ist.
Und was soll ich sagen, ich war und bin begeistert. Es waren so sympathische Wanderer dabei, wir haben uns klasse unterhalten und gelacht. Die Zeit verging schnell.
Ich muss auch ein großes Lob an die Organisatoren aussprechen. 1A Verpflegung und Betreuung. Top.
Du hast sogar nun Blut geleckt und wirst bald den nächsten gehen. Was es nicht alles gibt. Harz Dogtrekking. Dann viel Spaß bei der Planung und ich freue mich auf deinen Bericht.
Viele Grüße
Conny
Hallo Conny,
vielen lieben Dank für deine Worte.
Klasse – ich freue mich, dass du auch diese Langstreckenerfahrungen machen konntest.
Ich bin ja eigentlich eher die Ruhesuchende in der Natur, aber der Zusammenhalt zwischen den Wanderern und die Freundlichkeit erlebt man nur bei solchen Events. Find ich wirklich toll.
Ich wünsche dir auch weiterhin ganz viel Spaß beim Wandern und sende dir liebe Grüße aus dem Harz,
Maddie
Hallo Maddie!
Thorsten hat mir den Tipp gegeben, dass Dein Bericht jetzt online ist!
Sehr schön! Und ich fand es schon fast wie auf dem Jakobsweg:-) Schöne Wege, entspannte Gespräche, nette Menschen, gemeinsames angenehmes Schweigen…war echt ein toller Tag!!!
Und Dein Bericht hat eben alles nochmal zum Leben erweckt:-)
Dem Team habe ich auch nochmal geschrieben und mich für die super Orga bedankt! Das war schon echt klasse und sehr herzlich!
Lass es Dir gut gehen! Ich bin sicher, wir sehen uns mal wieder:-)
Liebe Grüße
Britta
Liebe Britta,
vielen lieben Dank für dein so tolles Feedback – freut mich riesig! 🙂
Es hat wirklich total viel Spaß gemacht mit euch Beiden und ich würde mich riesig freuen, wenn wir mal wieder einen Wandermarathon durchstehen würden. Vielleicht gibt es ja auch eine Wiederholung?! 🙂
Herzliche Grüße aus Goslar und viel Freude weiterhin beim Pilgern und Laufen,
Maddie
Liebe Maddie,
vielen Dank für den schönen Bericht und die tollen Bilder! Macht beides definitiv Lust, die Gegend zu erkunden. Ich bin ja eigentlich eher im Nordharz unterwegs, aber wenn ich das so sehe, sollte ich mich häufiger mal auf den Weg in den Süden machen … 🙂
Viele Grüße,
Monika
Liebe Monika,
vielen lieben Dank für dein Feedback! Das freut mich! 🙂
Die Südharzgegend kann ich auf jeden Fall empfehlen – ist auch nicht soooo bergig wie in Brockennähe (was mir persönlich sehr gefällt ;-)).
Herzliche Grüße zur dir,
Maddie